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Afrique-Europe-Interact

„Für das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen“

16. Jul 2019 | Blog

Im Oktober 2018 gingen in Berlin Hunderttausende für eine offene und solidarische Gesellschaft auf die Straße. Was ist seitdem passiert? In unserer Interviewreihe stellen wir Organisationen vor, die damals auf der #unteilbar-Demo dabei waren. „Solidarität kann für uns nur global ausbuchstabiert werden“, erklären die Aktivist*innen von Afrique-Europe-Interact. Das transnationale Netzwerk setzt sich in Mali, Togo, Burkina Faso, Guinea, Niger, Tunesien, Marokko, Deutschland, Österreich und den Niederlanden für die Rechte Geflüchteter und Migrant*innen ein.

Wer seid ihr? Wie lange gibt es euch schon und worum geht es bei Afrique-Europe-Interact?

Afrique-Europe-Interact (AEI) ist ein kleines, transnational organisiertes Netzwerk, das Anfang 2010 gegründet wurde. Beteiligt sind Basisaktivist*innen vor allem in Mali, Togo, Burkina Faso, Guinea, Niger, Tunesien, Marokko, Deutschland, Österreich und den Niederlanden – unter ihnen zahlreiche Geflüchtete, Migrant*innen und Abgeschobene. Politisch verfolgt AEI zwei Ziele: Einerseits verteidigen wir die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen – sei es durch praktische Unterstützung beim Aufbau eines Rasthauses für Frauen und ihre Kinder in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, sei es durch politische Aktionen. Andererseits unterstützen wir bäuerliche und andere Kämpfe, etwa bei Landkonflikten in Mali. Diese zweite Zielsetzung hängt mit unserem grundsätzlichen Ansatz zusammen, für die strukturellen Hintergründe von Flucht und Migration und die Forderung nach gerechter bzw. selbstbestimmter Entwicklung praktische Lösungen zu finden. In allem arbeiten wir nach der Devise: „Für das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen“. Je nach Aktionsort richten wir uns an afrikanische oder europäische Öffentlichkeiten, manchmal auch Regierungen oder dritte Akteure. Am wichtigsten ist uns jedoch Empowerment, d.h. Afrique-Europe-Interact handelt nicht für Betroffene, sondern mit Betroffenen – sie stellen die Mehrheit der Aktivist*innen in unserem Netzwerk.


Was habt ihr bereits gemeinsam auf die Beine gestellt? Was konnte dank eurer Arbeit angestoßen, verändert oder verbessert werden?

Wir haben keine Hitliste, aber es gibt einige Höhepunkte: In Mali hat die bäuerliche Basisgewerkschaft COPON zusammen mit unserem Netzwerk erreicht, dass in der vom Niger bewässerten Region „Office du Niger“ die Wasserrechnungen für mehrere hundertausend kleinbäuerliche Hausgehalte geringer ausfallen. In den Jahren 2011 bis 2014 mussten nach Beginn des libyschen Bürgerkriegs zehntausende Arbeitsmigrant*innen aus Subsahara-Afrika das Land verlassen, viele flohen in das Flüchtlingslager Choucha an der libysch-tunesischen Grenze. Durch zahlreiche maßgeblich von AEI getragene Proteste konnten schließlich 201 Geflüchtete nach Deutschland ausreisen. 2016 wurden Massenabschiebungen u.a. nach Mali angekündigt, die durch Proteste sowohl in Deutschland als auch in Mali und einem dann veränderten Verfahren bei Erteilung von Passersatzpapieren verhindert werden konnten. Ein letztes Beispiel: Am 14. März 2019 sind durch das von AEI und anderen Organisationen gegründete „Alarmphone Sahara“ erstmalig 31 Menschen bei zwei Rettungseinsätzen in der Sahara gerettet worden.

Welche Themen und Ziele stehen aktuell im Vordergrund eurer Arbeit?

Wie gesagt, es gibt bei AEI ganz verschiedene Handlungsorte – auch solche wie das ökologische Künstler*innendorf Faso Kele in Guinea, bei dem es um die Verbindung von Kunst, ökologischer Landwirtschaft und Bewegungsfreiheit geht. Wichtiger als einzelne Projekte ist uns daher der Aufbau und die Aufrechterhaltung langfristiger Strukturen. Das ist vor allem in afrikanischen Ländern verdammt schwierig, insbesondere wegen der in jedweder Hinsicht prekären Rahmen- bzw. Existenzbedingungen für unsere Mitstreiter*innen.

Hat sich eure Arbeit in den letzten Jahren aufgrund der politischen Situation in Deutschland und Europa verändert?

Ja, ganz klar: Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2014 bis 2016 haben sich nicht nur die Bedingungen auf den Flucht- und Migrationsrouten, sondern auch innerhalb der EU extrem zugespitzt. Die Gründung des Alarmphone Sahara ist eine unmittelbare Folge davon. Oder die von unserem Mitstreiter Riadh Ben Ammar angestoßenen Proteste gegen Abschiebungen nordafrikanischer Migrant*innen. Dieser Kampf ist besonders nach der Silvesternacht in Köln 2015/2016 extrem schwierig geworden. Denn seitdem sind Vorurteile und Ausgrenzungsphantasien auch im Mainstream, ja selbst in linken Zusammenhänge völlig normal geworden. In Tunesien will der tunesische Verein „Sans Visa“ (Ohne Visum), gegründet im Februar 2019, mit den Menschen vor Ort über die negativen Auswirkungen der restriktiven Visa-Politik der europäischen Länder auf die nordafrikanischen Gesellschaften ins Gespräch kommen.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft – sowohl politisch als auch in Bezug auf die eigene Arbeit?

Wir kriegen als AEI viel Applaus – das freut uns natürlich. Gleichzeitig haben sogenannte Nord-Süd-Fragen es schwer, sich ernsthaft Gehör zu verschaffen. Kein linkes Flugblatt ohne Verweis auf den weltweiten Hunger, auf die Ausplünderung von Rohstoffen oder die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels. Doch wenn es um konkrete Zusammenarbeit mit Initiativen im globalen Süden geht, wird die Luft dünn, dann wird vieles an NGOs, Kirchen oder spezialisierte (Expert*innen-)Netzwerke delegiert. Entsprechend wünschen wir uns mehr Menschen, die in diesem Rahmen aktiv werden – AEI ist nur einer von vielen Ansatzpunkten.

Was bedeutet „unteilbar“ für euch? Was versteht ihr unter einem solidarischen Miteinander?

„Bis alle Menschen gleich viel wert sind.“ Dieser Slogan stammt aus der südafrikanischen Aidsbewegung. Damals ging es um den gleichberechtigten Zugang zu antiretroviralen Medikamenten, die bei Infizierten den Ausbruch der Krankheit beträchtlich verzögern können. Aber was für eine HIV-Infektion gilt, gilt auch für die Gesundheitsversorgung insgesamt, genauso wie für Nahrung, Wasser, Energie, Wohnen, Bildung etc.. Hier sind die Zugänge global extrem ungleich verteilt – entsprechend kann Solidarität für uns nur global ausbuchstabiert werden.

Was können wir alle tun, um uns gegenseitig zu unterstützen und Haltung zu zeigen?

Auch wenn es für uns selbst nur eingeschränkt gelingt, denken wir, dass sich alle Aktiven einen gewissen Teil ihrer politischen Zeit dafür reservieren sollten, um an den Aktionen anderer Bewegungen teilzunehmen oder sich an Bündnisprojekten zu beteiligen. Denn „allein machen sie dich ein“, um einen viel zitierten und dennoch wahren Songtitel von Ton Steine Scherben zu zitieren.

Wie findet man bei all den verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Themen heutzutage den Bereich oder die Organisation, wo man sich engagieren kann?

Letztlich kommt es aus unserer Sicht nicht aufs Thema an, sondern auf die Haltung, mit der wir an die Dinge herangehen. Neben dem eben zitierten Slogan „Bis alle Menschen gleich viel wert sind“ geht es uns vor allem um Verbindlichkeit, Kontinuität und gemeinsame Organisierungsprozesse von unten.

Wie kann man sich euch anschließen und selbst aktiv werden?

Wer bei uns mitmachen möchte, kann gerne an einem unserer alle drei Monate stattfindenden Treffen teilnehmen.

afrique-europe-interact.net
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Publikationen:
Rodrigue Pegy Takou Ndie Die Suchenden (Roman)
Emmanuel Mbolela: Vom Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil

 

Dieser Blog-Artikel ist zuerst beim Blog Resonanzboden erschienen.

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