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Nach 4 Jahren Bündnisarbeit: Das bundesweite #unteilbar-Bündnis löst sich auf – Zeit für einen neuen Aufbruch

I.

Im Sommer 2018 verschob sich der gesellschaftliche Diskurs dramatisch nach rechts. In der Mitte der Gesellschaft wurden extrem rechte Positionen sagbar und in allen politischen Lagern wurden neue, migrationsfeindliche Stimmen laut. Rassistische Hetze und der Versuch, gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen und Sündenböcke für sozialpolitische Zumutungen zu finden, waren an der Tagesordnung.

In dieser Situation bildete sich aus Hunderten Initiativen, Vereinen, Organisationen und engagierten Einzelpersonen das Bündnis #unteilbar und rief unter dem Slogan: „Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung“ zur Großdemonstration in Berlin auf. Als Bündnis erreichten wir innerhalb weniger Wochen eine besondere Breite und Dynamik. Von antirassistischen, feministischen und antikapitalistischen Gruppen und Organisationen über kulturelle Einrichtungen und religiöse Akteure bis hin zu Gewerkschaften und Sozialverbänden bildete sich ein einmaliges Netzwerk der Zivilgesellschaft.

Was uns einte, war, dass wir nicht tatenlos zusehen wollten, wie das Asylrecht und der Sozialstaat noch weiter ausgehöhlt, rassistischen Parteien noch mehr Raum gelassen und Grundrechte weiter eingeschränkt werden. Die Demo war auch ein gemeinsamer Ausdruck des Jahres der Bewegung und der Solidarität 2018: der Einsatz für zivile Seenotrettung, die unzähligen Demos gegen die AfD, der Kampf gegen Polizeigesetze, für Klimagerechtigkeit und den Erhalt des Hambacher Forsts.

Letztlich setzten 240.000 Menschen am 13. Oktober 2018 in Berlin auf der Straße ein Ausrufezeichen: Die solidarische Gesellschaft demonstrierte an diesem Tag, dass sie in ihren Kämpfen #unteilbar ist, dass wir uns trotz aller Unterschiede auf gemeinsame Positionen verständigen können und dass wir handlungsfähig sind: autoritäre Gefahren abzuwehren, Solidarität praktisch werden zu lassen und gemeinsam für einen gesellschaftlichen Antifaschismus einzustehen.

In dem Verbindenden, der Praxis des #unteilbar-Seins sehen wir den großen Erfolg des Bündnisses. Die Kraft und die Euphorie der Demonstration und die aufeinander bezogene Vielfältigkeit fanden am 13.10.2018 auch im Bühnenprogramm ihren Ausdruck: Marginalisierte Stimmen verschafften sich Gehör, Prominente positionierten sich eindeutig gegen jegliche Form von Menschenfeindlichkeit und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterstrichen das Gemeinsame in ihren Kämpfen. #unteilbar ist damit für viele Menschen und Organisationen zum Mut machenden Ankerpunkt geworden, der die alltägliche Arbeit in einen größeren Rahmen setzt.

#unteilbar hat sich dabei nicht als Kampagne verstanden, die unmittelbare realpolitische Ziele verfolgt, sondern hat mit der damaligen Bewegungsdynamik einen Raum geschaffen, als Gesellschaft der Vielen sichtbar zu werden und Platz einzunehmen – mit dem Ziel, Kämpfe zu verbinden, neue Allianzen zu knüpfen und dadurch gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken.

II.

Nach der ersten Großdemonstration sahen wir unsere Aufgabe darin, auch in Zukunft an entscheidenden Stellen in Politik und Gesellschaft einzugreifen: 2019 in Dresden und Leipzig vor den sächsischen Landtagswahlen; bei der Protestkundgebung gegen den rechtsterroristischen Anschlag auf die Synagoge und den Kiez-Imbiss in Halle; 2020 nach dem Tabubruch der FDP, mit der AfD zu paktieren, um den Ministerpräsidenten Thüringens zu stellen; 2021 zu den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern mit #unteilbaren Landesvernetzungen. Gemeinsam wollten wir Zusammenhänge verstärken und ausweiten, um Spaltungsversuche zurückzuweisen, gegen rechte Verschiebungen in Politik und Diskurs zu intervenieren und diesen den Solidarischen Osten entgegenzustellen.

Ziel für uns als bundesweites #unteilbar-Bündnis war es, praktische Solidarität und Zusammenarbeit zwischen Berlin und Engagierten in den ostdeutschen Bundesländern aufzubauen. Bei allen Hürden und Fehlern werten wir es als einen großen Erfolg der Bündnisarbeit, dass die solidarische Zivilgesellschaft im Osten in ihrem Kampf gegen die rechte Bedrohung sichtbarer geworden ist.

III.

Mit Pandemiebeginn 2020 wurde es herausfordernd, unseren bisherigen politischen Ansatz weiter umzusetzen, über alle Unterschiede hinweg mit Tausenden Menschen zusammenzukommen und über große Demonstrationen gesellschaftliche Gegenmacht zu erzeugen. Zeitgleich kamen neue große politische Aufgaben für ein #unteilbar-Bündnis hinzu: Gesundheit und das kaputt gesparte Gesundheitswesen, Menschen, die „zurückgelassen“ oder stigmatisiert werden, und die in der Pandemie stark angestiegene soziale Ungleichheit.

Da traditionelle Großdemonstrationen zu diesem Zeitpunkt weder zulässig noch vertretbar waren, entwickelten wir das Format „Band der Solidarität“(www.unteilbar.org/aktionen/sogehtsolidarisch), mit dem wir Tausende Menschen in Berlin und vielen anderen Orten gemeinsam auf die Straßen brachten, und knüpften neue Bündnisse: etwa mit der Krankenhausbewegung und der Klimagerechtigkeitsbewegung (https://www.unteilbar.org/aufbruchsklima).

Die Pandemie wurde von rechten Gruppierungen und den neu aufkommenden Querdenker*innen instrumentalisiert. Auch hier musste #unteilbar Stellung beziehen und stellte klar, was diese Leute mit ihrem individualistischen Freiheitsbegriff fordern – nämlich das Recht des Stärkeren, das sich im Kontext eines erodierten Sozialen als verführerische Alternative präsentierte (www.unteilbar.org/freiheitsolidarisch). Allerdings war es erkennbar schwer, mit unseren Aktionen den nötigen „Nachdruck der Straße“ aufzubauen, um der Verantwortungslosigkeit von Querdenker*innen wirkungsvoll entgegenzutreten.

Mit der #unteilbar-Demonstration am 4. September 2021 in Berlin haben wir kurz vor der Bundestagswahl Druck in Richtung einer progressiven Sozialpolitik entfaltet (https://www.unteilbar.org/berlin-demo-2021). Wir erreichten einmal mehr eine beeindruckende Öffentlichkeit und Bündnisbreite. Unter pandemischen Bedingungen gingen 30.000 Menschen auf die Straße, #unteilbar war bundesweit in den Medien präsent. Trotz der großen Außenwirkung konnten wir mit der Demo aber nicht an die Aufbruchsdynamik und Kraft vergangener Aktionen anschließen. Viele empfanden die Demonstration als ritualisierte Wiederholung, ein Eindruck, der sich auch aus der internen Dynamik des Bündnisses speiste.

Die große Stärke von #unteilbar war das Zusammenführen von sehr unterschiedlichen politischen Spektren, um ein klares Zeichen gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck und die Verschiebung des Sagbaren zu setzen. Wir haben auf Basis des gegenseitigen Vertrauens politische Forderungen weiterentwickelt und zugespitzt und zugleich die gesellschaftliche Breite des Bündnisses erhalten. Dieser Schulterschluss hat Kompromisse erfordert – der einen oder anderen Bündnisorganisation waren einige Forderungen zu radikal, manchen Organisationen und Aktivist*innen im Bündnis gingen sie nicht weit genug. So konnte zum Beispiel in Bezug auf institutionellen Rassismus kein Konsens zu klaren gemeinsamen Forderungen gefunden werden. In einer breiten Öffentlichkeit ist #unteilbar immer noch präsent. Aber nach vier Jahren #unteilbar haben sich viele Akteure aus der aktiven Mitarbeit in den Arbeitsgruppen des Bündnisses #unteilbar zurückgezogen.

IV.

In einer Zeit, in der in vielen Ländern rechte Kräfte auf dem Vormarsch waren und sind, hat #unteilbar einen wichtigen Anteil beigesteuert, dass dieser Rechtspopulismus hierzulande bisher nicht mehrheitsfähig geworden ist.

Der Bewegungszyklus, in dem #unteilbar entstanden ist, ist zu Ende. Neue Herausforderungen liegen neben den alten auf dem Tisch. Wir sind überzeugt, dass es frische Konstellationen und neue Energie braucht, um den jetzt anstehenden immensen politischen Aufgaben zu begegnen. Schweren Herzens haben wir deshalb entschieden, dass wir als bundesweites Bündnis #unteilbar nicht weiterarbeiten werden.

Wie kann jetzt eine Revitalisierung der Kräfte gelingen? Wir haben uns als Aktive aus dem #unteilbar-Bündnis mit anderen Bewegungen und Akteuren ausgetauscht und gemeinsam ausgelotet, wie sinnvolle strategische Konstellationen unter veränderten politischen Bedingungen – Ampelregierung – und angesichts der vor uns liegenden politischen Herausforderungen – fortschreitende Menschenrechtsverletzungen, Klimakatastrophe, zunehmende Verteilungsungerechtigkeit und drohende Verarmung, rechte Hegemonie im ländlichen Osten und Krieg in der Ukraine – aussehen könnten.

Maßgabe fortschrittlicher Bewegungen und Zivilgesellschaft bleibt die politische Orientierung darauf, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen, einer von Ressentiment getrieben Politik entschieden entgegentreten und für solidarische Alternativen für alle eintreten. Der Modus der #Unteilbarkeit – er ist nicht gescheitert und nicht verloren. Als solidarische Gesellschaft werden wir das Feld weder den Rechten und Klimaleugner*innen noch den Krisengewinner*innen überlassen.

Jetzt gilt es umso mehr, die thematische Zuspitzung und den Konflikt zu wagen. Wir werden uns als Akteur*innen aus dem #unteilbar-Bündnis daran beteiligen, neue Bündnisse und Zusammenschlüsse zu schmieden, wo wir können.

Die Arbeit von #unteilbar hat deutlich gemacht, welche Möglichkeiten und welche Kraft in einem Zusammenschluss stecken können, dem es gelingt, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Das neue Gemeinsame muss jetzt entwickelt werden.

Für eine offene und solidarische Gesellschaft!

#unteilbar im September 2022